Folge 4: Der Abschied vom magischen Zeitalter

Trier · Die Menschheit unterwegs zur Hochkultur. In der sogenannten "Achsenzeit" vor rund 2500 Jahren machte das menschliche Denken einen Sprung, der bis heute Grundlage aller Zivilisationen ist.

Je weiter wir zurückgehen bis zur Achsenzeit, desto verwandter werden wir einander, desto näher fühlen wir uns." Dies schrieb der deutsche Philosoph Karl Jaspers in seinem 1949 erschienenen Werk "Vom Ursprung und Ziel der Geschichte". Seither ist "Achsenzeit" auch ein fester Begriff in der geistesgeschichtlichen Betrachtung. Er bezeichnet einen Zeitraum von etwa 800 bis 200 vor Christus, in dem "für alle Völker ein gemeinsamer Rahmen geschichtlichen Selbstverständnisses erwachsen ist. Es entstand der Mensch, mit dem wir bis heute leben." (Jaspers)
Kulturgeschichte der Menschheit



Wie in den vorherigen Folgen unserer Reihe "Kulturgeschichte der Menschheit " dargestellt, gingen mit dem vor etwa 10 000 Jahren einsetzenden Wandel vom Jäger und Sammler hin zum sesshaften Bauern und Handwerker enorme Fortschritte einher: Viehzucht, Pflanzenkultivierung, Keramikproduktion, Kupferverarbeitung, neue Werkzeuge, großflächiger Tauschhandel. Dazu der Umzug in stabile Häuser, die vermehrt zu größeren, teils befestigten Siedlungen gehörten, aus denen erste Städte hervorgingen. Neue soziale Systeme bildeten sich heraus.

Komplexere Sprachen:
Man kann davon ausgehen, dass sich im Zuge dieser "neolithischen Revolution" auch die Sprachen der Menschen wesentlich veränderten. Steinzeitliche Jäger und Sammler hatten sich mit einem noch relativ bescheidenen Schatz aus Gesten, Lauten, Worten hinreichend verständigen können. Für die ungleich komplizierteren Anforderungen sesshafter Kulturen brauchte es komplexere Sprachen. Schließlich entstand vor gut 4000 Jahren auch die Schrift als wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren großer, arbeitsteiliger Gemeinschaften.

Gestaltbare Natur:
All diese Entwicklungen brachten eine nachhaltige Veränderung der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt mit sich. Plötzlich erlebte er sich nicht mehr als Teil einer unbeeinflussbaren natürlichen Umgebung, deren allgegenwärtig geglaubten Geistern und Dämonen er ausgeliefert war. Stattdessen machte er mit der Arbeit auf dem Acker, in der Werkstatt, beim Siedlungs- und Wegebau täglich die Erfahrung, dass er Natur nach seinem Willen gestalten konnte. Der Mensch aß vom "Baum der Erkenntnis", sollte es später in der Bibel heißen. Dadurch veränderte sich zwangsläufig sein Blick auf die Welt tiefgreifend.

Vernunft, Ratio, Logos:
Es begann das Nachdenken über die Zusammenhänge der Dinge, die Ordnung der sichtbaren und unsichtbaren Welt. Damit tritt Vernunft, Ratio, Logos, in die Geschichte ein. Eine Vernunft, die einerseits praktisch war: Denn ohne an der Realität orientierten Verstand ist jenes planmäßige Handeln gar nicht möglich, das es für entwickelte Lebenskulturen in Dörfern, Städten und Reichen braucht. Eine Vernunft aber auch, die als Philosophie und systematische Religion allmählich das animistische Weltbild verdrängte.

Zeitalter der "Vergeistigung":
Im Verlauf der neolithischen Revolution traten an die Stelle unzähliger Naturgeister überschaubare Gruppen von Göttern, wie sie etwa die frühen Hochkulturen des alten Ägypten, der Sumerer oder Phönizier aufwiesen. Die Achsenzeit selbst wird nachher zur Geburtsepoche der ersten universalen Ein-Gott-Religionen und zugleich zum Zeitalter der "Vergeistigung", wie Jaspers es nennt. Andere sprechen von "Entdeckung des Geistes" oder "Geburt des Logos". Für Griechenland wird diese Phase auch als Entstehung des Politischen" charakterisiert, weil sie dort verknüpft war mit dem Aufkommen der Stadtstaaten, der Polis.

Erste Hochkulturen:
Wir wissen inzwischen, dass weder die biologische Wiege der Menschheit noch ihre neusteinzeitlichen Entwicklungszentren in Westeuropa lagen. Aber auch hinsichtlich der Achsenzeit-Umbrüche käme man mit dem sogenannten "eurozentristischen Blick" den Tatsachen nicht allzu nahe. Mitteleuropa war nun mal nicht der Nabel der Welt - nicht hier sind die ersten Hochkulturen entstanden, sondern in Afrika, Persien, China, Indien und Griechenland.

Vier Kulturkreise:
Vier herausragende Kulturkreise werden für die Achsenzeit skizziert: erstens der chinesische, geistig wesentlich beeinflusst durch Konfuzius und Laozi. Zweitens die indische Hochkultur mit ihren Prägungen durch Hinduismus und Buddhismus. Drittens der zweigeteilte Orient: Persien beeinflusst durch die religiösen Lehren des Zarathustra, sowie Palästina als Heimstatt des alttestamentarischen Judentums. Viertens der antike griechische, später auch römische Kulturkreis: In diesem wurde mit dem Auftreten der ersten Naturphilosophen, dann über Sokrates, Platon und Aristoteles bis zur römischen Philosophie die heutige europäische Weltanschauung entscheidend geprägt.

Ähnliche Entwicklungen:
Es ist ein erstaunliches Phänomen: Zeitgleich vollziehen sich in sehr weit voneinander entfernten Kulturen ganz ähnliche Entwicklungen. In China, Indien, im Iran, in Palästina und Griechenland kamen Menschen, die wenig bis gar nichts voneinander wussten, zu verwandten Fragestellungen, Schlüssen, Reifungen. Sie entwickelten die Rationalität (das vernünftige Denken) sowie die ersten philosophischen und/oder religiösen Systeme. Aus der Jahrzehntausende währenden Einbettung in die von unzähligen Geistern beseelte Natur und aus der kreatürlichen Geborgenheit in der Überlebensgemeinschaft der Steinzeitsippe hatte der neolithische Fortschritt sie herausgerissen. Neuorientierung stand auf der historischen Tagesordnung.

Menschen als Einzelwesen:
Die Menschen entdeckten, dass sie keine Rudeltiere waren, kein bewusstloses Teilkollektiv der Natur, sondern Einzelwesen, Individuen. Damit stand alles bisherige Fühlen und Denken auf dem Prüfstand. Der Logos setzte sich neben den Mythos, verdrängte ihn zusehends. Der über sich selbst und die Welt nachdenkende Mensch machte sich zum "Maß aller Dinge". Zugleich schwand der alte Glaube an die erdverbundene Magie. An ihre Stelle trat eine neue Ordnung: die der mächtigen bis allmächtigen Götter, in deren Plänen der Mensch seine Rolle spiele und vor deren Augen er sich zu bewähren habe.

Krone der Schöpfung:
Eine bis dahin nicht vorstellbare Teilung in Diesseits und Jenseits zog als neue Grundlage ins Denken ein. Menschen sahen sich nicht länger als Naturwesen. Vielmehr verstanden sie sich aufgrund ihres individuellen Stolzes, die Natur überlisten, ja beherrschen zu können, als etwas Besonderes: als geistige Wesen, Krone der Schöpfung - den außerhalb und über der Natur stehenden Göttern ähnlicher ("Gottes Ebenbild") als den Tieren der Erde. Erst die wissenschaftliche Betrachtungsweise der Neuzeit veränderte diese Perspektive erneut: Der moderne, aufgeklärte Mensch begreift sich wieder als natürlicher Organismus, der trotz aller Geistigkeit und Technik Teil der Natur ist.

Verbreitung der neuen Ideen:
Die in der Achsenzeit neu aufkommenden Ideen wurden mündlich und schriftlich "kommuniziert", fanden über vernetzte Dörfer und Städte rasche Verbreitung. Dazu schrieb Karl Jaspers: "Es erwuchsen geistige Kämpfe mit den Versuchen, den anderen zu überzeugen durch Mitteilung von Gedanken, Gründen, Erfahrungen. Diskussion, Parteibildung, Zerspaltung ließen Unruhe entstehen bis an den Rand des geistigen Chaos." Es ging überaus lebhaft zu in der Achsenzeit. Die philosophischen Lehrer, Propheten, Religionsstifter wanderten umher, diskutierten, konkurrierten um den richtigen Weg zur Wahrheit, bildeten Schulen und Anhängergemeinden. Erstmals wurden Reden, Diskussionen, Lehrsätze, Erzählungen, Prophezeiungen aufgeschrieben. Dadurch entstand die Grundlage auch für das Entstehen der Buchreligionen Judentum, Christentum, Islam.
In der nächsten Folge: Die Wurzeln des Abendlandes - Homer und Bibel
Als "Animismus" werden die in Jäger-Sammler-Kulturen entwickelten religiösen Vorstellungen bezeichnet. Heute benutzt man dafür umgangssprachlich oft auch den Begriff "Naturreligion". Religion meint hier etwas anderes als Judentum, Christentum oder Islam. Das animistische Weltbild betrachtet jedes Element des Kosmos als "beseelt", also neben den Menschen auch Tiere, Pflanzen, Erde, Wasser, Sterne ... Diesseits und Jenseits gelten als zwei miteinander verbundene Sphären der Realität. Der Animismus kennt noch keine allmächtigen Götter. Animistische Rituale, Symbole, Beschwörungen zielen vor allem auf Resultate für das der Natur ausgesetzte Leben im Diesseits. Für Gesundheit und gute Jagd wollen die Naturgeister geachtet und nötigenfalls durch Opfergaben positiv gestimmt werden. In Indien begründete Siddhartha Gautama, genannt Buddha (der Erwachte), im 5. Jh. vor Chr. eine Religion des Mitleids und "der Aufhebung des universalen Weltleidens" (Gustav Mensching). In Persien lehrte, so die Annahme, im 7. oder 6. Jh. v. Chr. Zarathustra als Religionsstifter ein Weltbild des kosmischen Kampfes zwischen Gut und Böse. In China, wo u. a. die Denker Kungfuzi (Konfuzius, Foto: dpa) und Laozi wirkten, entstanden im 5. und 4. Jh. vor Chr. alle grundsätzlichen Schulen der chinesischen Philosophie. Die konfuzianische Richtung ist im Kern ein sozial- und bildungsorientierter Humanismus, die taoistische Richtung vertritt eine sozialkritische Naturmystik. Der Text dieser Seite entstand auf Basis eines Vortrages, den Barbara Abigt, Geschäftsführerin der Marienburger Seminare, im Rahmen der Akademie gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck in der Zeitung haben Andrea Mertes und Andreas Pecht übernommen. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e.V. Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare e.V., Tel. 02661/6702, E-Mail: mail@marienberger- akademie.de Die TV-Serie "Kulturgeschichte der Menschheit" ist eine Kooperation der Marienberger Seminare mit mehreren Regionalzeitungen. Sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz. red

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