Folge 6: Die Demokratie kommt nach Europa

In Kunst, Philosophie, Naturwissenschaft und Politik schufen die alten Griechen Prototypen der Moderne. Darunter die Demokratie. Ersonnen im antiken Athen, lebt die Idee der Volksherrschaft bis heute fort.

 Wie kein anderes bauliches Relikt steht die Athener Akropolis mit ihrem mächtigen Parthenon-Tempel für die Hochkultur des antiken Griechenlands. Das Bauwerk ist heute durch die Luftverschmutzung stark gefährdet. Foto: iStock

Wie kein anderes bauliches Relikt steht die Athener Akropolis mit ihrem mächtigen Parthenon-Tempel für die Hochkultur des antiken Griechenlands. Das Bauwerk ist heute durch die Luftverschmutzung stark gefährdet. Foto: iStock

Wie kamen die Menschen der Antike dazu, sich selbst zu regieren? Die Anfänge liegen im 7. Jahrhundert vor Christus. Sie hängen zusammen mit der Entwicklung der sogenannten Polis. Sie ist nicht nur eine Regierungs-, sondern eine Lebensform. Es ist die Gemeinschaft von maximal 4000 Menschen einer Stadt und ihres Umlands, die autark leben, aber bestimmte Interessen - etwa den Kriegsfall - als Einheit vertreten. Mitglieder der Polis sind Adelsfamilien und freie Bauern.
Kulturgeschichte der Menschheit



Im Gegensatz zu den Königreichen der Ägypter, Assyrer oder Perser kennt die Polis keinen Alleinherrscher. Es gehört zu ihrer Grundlage, dass politische Macht von mehreren ausgeübt wird. Zwar liegt die Herrschaft in den Händen des Adels, der die Führungsämter jährlich neu unter sich aufteilt, die höchsten Regierungsbeamten (Archonten) stellt und den Adelsrat (Areopag) besetzt. Doch ist der Adel in keiner Polis so mächtig, dass er die Volksversammlung der freien Bauern ignorieren kann.

Polis Athen:
Hunderte solcher Stadtstaaten tauchen seit dem 8. Jahrhundert vor Christus rund um die Ägäis auf. Athen ist einer davon - nicht der glanzvollste. Das ändert sich im 6. Jahrhundert. Zu diesem Zeitpunkt ist der innere Friede der Athener Polis in Gefahr. Die sozialen Spannungen sind groß: Während der Adel Herrschaft und Gewinne unter sich aufteilt, sind viele Bauern hoch verschuldet und dadurch in Sklaverei geraten. Ein Aufstand droht. In dieser Lage wird ein Adeliger namens Solon von der Volksversammlung zum Sonderbevollmächtigten berufen. Es ist der Moment, in dem der Wandel der Athener Polis zur Demokratie beginnt.

Solons Reformen:
Solon setzt einen Schuldenerlass durch, befreit verarmte Bauern durch Abschaffung der Schuldknechtschaft aus der Sklaverei. Er reformiert die Finanzen, vereinheitlicht Maße und Gewichte und teilt die Bevölkerung in vier Vermögensklassen ein. Dank seiner Reformen richtet sich die Stellung des Einzelnen nicht mehr nach der Herkunft, sondern nach Besitz und Einkommen. Die Vorherrschaft des Geburtsadels ist aufgehoben. Solon lässt die Gesetze auf Tafeln schreiben und öffentlich aufstellen. Jeder Bürger kann sich darauf berufen. Die Verfassung wurde nach dem Willen des Volkes geändert. Es ist die Geburtsstunde der Politik.

Reiche bleiben an der Macht:
An der faktischen Machtverteilung in Athen ändert die neue Ordnung allerdings wenig. Denn weder Bauern noch Handwerker, Händler oder Gastwirte haben Zeit und Geld, politisch tätig zu werden. Die Macht liegt weiter in den Händen der Reichen. Demokratisch ist die neue Ordnung noch nicht. Drei Generationen nach Solon tritt wieder ein Reformer an, für gerechten Ausgleich zu sorgen. Kleisthenes heißt der Mann, der 508 vor Christus die Sozialstruktur der Polis reformiert und die Basis legt für eine vitale Demokratie mit weitreichender Teilhabe auch des einfachen Volkes. Wobei das Wort "Basis" eine Untertreibung ist: Die neue Verfassung ist ein komplexes und kompliziertes Gerüst, um die Macht im Staat auf viele Schultern zu verteilen. Sie ist ein Vorzeigemodell politischer Partizipation.

Dörfer mit Selbstverwaltung:
Ein Baustein der neuen Ordnung sind die Gemeinden (Demen). Jede Demos - ein Dorf oder ein Stadtviertel Athens - erhält eine kommunale Selbstverwaltung, in der die Einwohner über Dinge wie Gemeinbesitz oder Bauvorhaben abstimmen. Gleichzeitig teilt Kleisthenes die Polis in drei Regionen ein: Athen und Umland, Binnenland, Küste. Aus jeder dieser drei Regionen kommt jeweils eine Deme mit den anderen zu einem weiteren Gremium zusammen - der Phyle. Die gesamte Bevölkerung Athens wird dadurch nach repräsentativen Kriterien neu zusammengesetzt. Männer aus dem Stadtbereich Athens diskutieren nun mit Fischern von der Küste. Oder ziehen Seite an Seite mit Arbeitern aus den Bergen in den Krieg. Ein neues politisches Gemeinwesen entsteht abseits von aristokratischer Patronage. Athen rückt zusammen.

Alle Gewalt beim Volk:
Neu ist auch der Rat der 500. Hier werden Gesetzesvorschläge erarbeitet, der Rat bereitet au die Volksversammlung vor, in der jeder freie Mann Athens eine Stimme hat. Der Areopag, der alte Adelsrat, existiert weiter, ist aber in seiner Machtfunktion beschnitten. Neun Archonten - von der Volksversammlung gewählt - bilden die Exekutive und stellen unter anderem den Oberbefehlshaber der Armee. Das ebenfalls von der Versammlung gewählte Volksgericht stellt die Judikative. Damit üben die Athener die volle Gesetzgebungs-, Regierungs-, Kontroll- und Gerichtsgewalt über ihre Gemeinschaft aus. Der Staatsmann Perikles perfektioniert 461 vor Christus das System, indem er Tagegelder (Diäten) einführt als Ausgleich für den Verdienstausfall, den Bürger durch die Teilnahme an Versammlungen und die Übernahme politischer Ämter erleiden.
Engagement Einzelner:
Die Polis lebt vom Engagement der Bürger und von der gemeinsamen Sorge um das Gemeinwesen. Es ist eine Demokratie ohne Parteien: Stets sind es Einzelne, die sich durch Charisma und Rednergabe auszeichnen und Anhänger um sich scharen. Rund 30 000 stimmberechtigte Männer zählt die Athener Bürgerschaft. Von der Polisdemokratie ausgeschlossen sind Frauen, Sklaven und Ausländer ohne Bürgerrecht (Metöken). 200 000 Menschen leben in Athen - es regiert also noch immer eine Minderheit über die Mehrheit.

Kampf gegen die Perser:
Dennoch: Athen ist binnen wenigen Generationen von der Tyrannenherrschaft zur Demokratie geworden, in der Bürger nicht nur wählen, sondern auch Ämter bekleiden können. Das Selbstbewusstsein ist groß genug, um sich gegen das persische Großreich zu stellen. Es ist ein Kampf, den das Heer der zahlenmäßig unterlegenen Hellenen nicht gewinnen kann - und doch gewinnt. 490 vor Christus zerschlägt die Phalanx der Athener die Invasionsflotte der Perser. Bürgersoldaten der Polis bezwingen die Söldner des Großkönigs. Die Griechen haben gezeigt, dass ein Staat, in dem die Stimme eines Tagelöhners ebenso viel zählt wie die eines Großgrundbesitzers, der mächtigsten Monarchie überlegen sein kann. Die neue Staatsform ist im Dorf Marathon an der Ägäisküste verteidigt worden. Randnotiz der Geschichte: Ein griechischer Bote soll damals die 42 km von Marathon bis Athen in einem Stück gelaufen sein und den Sieg gemeldet haben.

Peloponnesischer Krieg:
Stolz und selbstbewusst sind sie, die Kämpfer von Marathon und ihre Nachfahren. Athen, über Jahrhunderte politisch beinahe bedeutungslos, wird ab 491 vor Christus immer mächtiger, wird von der Land- zur Seemacht - und beherrscht bald die Hälfte der griechischen Welt. Nur Sparta vermag es noch an Macht mit Athen aufzunehmen. Der Konflikt zwischen beiden bringt den Untergang. In seiner Zuspitzung beginnt im Jahr 431 vor Christus der Peloponnesische Krieg, in den fast alle griechischen Stadtstaaten als Verbündete der einen oder anderen Seite mit hineingezogen werden.

Keine Gewinner:
Das Morden dauert 25 Jahre. Dann kapituliert Athen, ausgeblutet und von seinen Bündnispartnern verlassen. Doch es gibt keinen Gewinner. Auch das siegreiche Sparta war am Ende eine überforderte Macht, zu schwach, um Griechenland neu zu ordnen. Die Region wird von den makedonischen Königen erobert, die keinen Platz mehr lassen für autonome Stadtstaaten. Ab etwa 200 vor Christus werden nach und nach Teile des griechischen Großreiches vom römischen Imperium geschluckt. 2000 Jahre vergehen, ehe das Ideal der Demokratie - nach den Worten Abraham Lincolns "Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk" - wieder seine machtvolle Wirkung entfaltet.

Die nächste Folge: Der Aufstieg Roms zur antiken Weltmacht
Wenn 2012 in London die Olympischen Sommerspiele beginnen, spricht die Welt wieder einmal Griechisch. Und zwar Altgriechisch. Denn die meisten europäischen Sprachen sind stark mit der Antike verbunden. Ob wir von der guten "Akustik", dem eigenen "Horizont" oder einem Besuch im "Zoo" reden: Griechisch ist überall. Auch in der Sportsprache. So war das "Stadion" ursprünglich ein Längenmaß von 600 Fuß. Die antiken Athleten übten sich in der "Gymnastik" - unter anderem im Speerwurf, Laufen oder Ringkampf. Die besten unter ihnen maßen sich alle vier Jahre vor Zehntausenden Zuschauern bei einem religiösen Fest in Olympia. Eine "Olympiade" meinte übrigens nicht das große Ereignis selbst, sondern den Zeitraum zwischen zwei Olympischen Spielen. Die Antike schwelgte in marmornem Weiß? Welch ein Irrtum. Richtig ist vielmehr: Die alten Griechen mochten es ziemlich bunt. Sie staffierten ihre Götter und Helden vielfach in prächtigen Farben und mit reicher Ornamentik aus. Belegt ist das unter anderem durch Pigmentreste auf Marmorfiguren. Auch in den Schriften der Antike finden sich Zeugnisse für eine bunte Götterwelt. Vom Bildhauer Praxiteles ist der Satz überliefert: "Von allen meinen Skulpturen sind mir die am liebsten, die Nikias (bedeutender Maler der griechischen Antike) farblich gestaltete." Neueste wissenschaftliche Untersuchungsmethoden ermöglichen mittlerweile originalgetreue Rekonstruktionen der antiken Marmorpolychromie. Der Haupttext dieser Seite entstand in Anlehnung an einen Vortrag, den Walter Zitterbarth im Rahmen der Akademie der Marienberger Seminare gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck in der Zeitung haben Andrea Mertes und Andreas Pecht übernommen. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e.V. Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare e.V., Tel. 02661/6702, Email: mail@marienberger-akademie.de Die TV-Serie "Kulturgeschichte der Menschheit" ist eine Kooperation der Marienberger Seminare mit mehreren Regionalzeitungen. Sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz. red

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