Folge 11: Die Ursprünge der abendländischen Musik

Trier · Schon in der Steinzeit machten die Menschen Musik. Doch eine systematische Musikpraxis entwickelte sich erst in Altertum und Antike. Dort liegen die Wurzeln unserer Musikkultur.

Musik ist nicht alles, aber ohne Musik ist alles nichts. Dieser Sinnspruch verdeutlicht einmal mehr die enorme Bedeutung "der schönsten Nebensachen" der Welt für unser Dasein. Arbeit, Essen, Wohnung sind Basis des menschlichen Lebens, aber wirklich lebenswert wird es erst durch einige andere Zutaten. Eine der wichtigsten ist die Musik. Können wir uns ein halbwegs befriedigendes Leben ohne sie vorstellen? Schwerlich. Und unseren frühen Vorfahren ging es da offenbar ebenso.
Kulturgeschichte der Menschheit

Die Wissenschaft belegt für Ägypten und Mesopotamien die Existenz zahlreicher Musikinstrumente bereits im dritten und vierten Jahrtausend vor Christus. Überliefert sind Trompeten, Harfen, Leiern, Flöten und Doppel oboen. Dazu kommt ein ganzes Sortiment einfacher Schlaginstrumente, darunter Rasseln, Klapperhölzer, Trommeln, Bronzeglocken, ja selbst metallene Kesselpauken. Streichinstrumente allerdings waren dem gesamten Altertum unbekannt. Man darf davon ausgehen, dass es auch damals schon Berufsmusiker gab, die bei religiösen Ritualen, herrschaftlichen Festivitäten, bei Tanz und Wettkämpfen oder zum Kriegszug aufspielten.

40 Fragmente:
Aus dieser langen Epoche sind leider nur etwa 40 musikalische Fragmente bekannt. Dennoch wissen wir das eine oder andere gerade über die Musik der Antike. Aus philosophischen Schriften etwa von Platon und Aristoteles geht hervor, dass die alten Griechen Musik nutzten, um die Ausdruckskraft von Worten zu steigern. So wurden wohl nicht unerhebliche Teile der griechischen Bühnendramen auch gesungen. Allerdings war die Musik dabei kein Zweck an sich, sondern stets eng an die Dichtung gebunden.

Fünfton-Musik:
Dennoch darf die griechische Antike als Geburtsstätte des heutigen abendländischen Tonsystems gelten. Zwar herrschte auch dort anfangs die in den meisten frühen Kulturen beheimatete Pentatonik vor. Diese Fünfton-Musik ohne Halbtonschritte war die global am meisten verbreitete Musikform und prägt bis in die Gegenwart die traditionelle Klangfolklore in zahlreichen Weltgegenden. Im Gegensatz dazu entwickelte sich im antiken Griechenland Zug um Zug ein System von sieben Tönen inklusive Halbtonschritten, aus dem sich unterschiedliche Tonarten ableiten ließen.

Musik beeinflusst Charakter:
Dieser Sonderweg der frühen Musikentwicklung fußt auf dem mathematisch-physikalischen Erkenntnisdrang der Hellenen auch im Bereich der Klangphänomene. Und noch eines kommt hinzu: die Überzeugung der griechischen Denker, dass Musik ein Ausdruck menschlichen Charakters ist und diesen zugleich beeinflusst. Wie ließ Platon den Sokrates sagen: "Nun, so ist gute Dichtung, gute Melodie, gutes Betragen, guter Rhythmus eine Folge der gutartigen Seelenverfassung." Gemäß der griechischen Ethos-Lehre ist Musik kein reines Genussmittel, kein ästhetischer Selbstzweck. Musik galt den Griechen als Mittel der Erziehung und war damit auch ein Mittel der Staatsführung. Es sollten Jahrhunderte vergehen, bis sich die Musik von klerikaler, staatlicher und moralphilosophischer Zwecksetzung emanzipieren konnte und autonome Kunst wurde.

Euripides\' Ode:
Eines der ältesten erhaltenen Musikstücke ist die Ode aus einem Drama des griechischen Dichters Euripides. Sie ist etwa 408 vor Christus entstanden. Der Papyrus, auf dem die Komposition notiert war, ist unvollständig. Nur 42 Noten haben die Zeit überdauert, viele fehlen. Wobei die griechische Notation völlig anders aussah als die heutige Notenschrift: Sie kannte keine Notenlinien und bestand aus Buchstaben. Aber die wesentlichen Eigenschaften der frühen griechischen Musik werden dennoch deutlich: Stimmen und Instrumente singen und spielen die gleichen Töne zur selben Zeit; es gibt keine mehrstimmigen Harmonien und keine eigenständige Begleitung; die entscheidende Rolle kommt den Worten zu, die Musik unterstützt atmosphärisch ihre Bedeutung.

Uraltes Trinklied:
Das älteste vollständig überlieferte Musikstück aus dem europäischen Kulturkreis ist das Seikilos-Lied - ein Trinklied, das auf einer Grabsäule in Kleinasien gefunden wurde, die ins zweite vorchristliche bis erste nachchristliche Jahrhundert datiert wird. Der Text fordert zum Genuss des Lebens auf und lautet: "Solange du lebst, tritt auch in Erscheinung./Traure über nichts zu viel./Eine kurze Zeit bleibt zum Leben./Das Ende bringt die Zeit von selbst."
Kirche als letzte Bastion:
Während das römische Imperium im sechsten Jahrhundert nach Christus zusehends verfiel, stiegen Ansehen und Macht des Bischofs von Rom stetig. Schließlich wurde der Papst die vorherrschende Autorität in Fragen des Glaubens und der Kultur, übernahm die Kirche immer mehr auch weltliche Aufgaben. Die römischen Staatsorgane befanden sich in Auflösung, da blieb die Kirche als letzte Bastion gegen das Chaos und einzige Bewahrerin von Kultur und Bildung. Sie wurde somit zu einem wesentlichen stabilisierenden Faktor im Europa des Frühmittelalters.

Drei musikalische Maximen:
Um 600 nach Christus hörte das Römische Reich quasi auf zu existieren - und für die folgenden 1000 Jahre spielten Gott, Kirche und das Verhältnis des Menschen zu Gott und Kirche die entscheidende Rolle in Philosophie, Bildung und Kunst in ganz West- und Mitteleuropa. Damit änderte sich auch die Funktion der Musik. Für die frühmittelalterliche Kirche war es notwendig, sich von den heidnischen Bräuchen abzugrenzen, die nicht nur im germanischen Raum noch weit verbreitet waren. Es setzten sich im Selbstverständnis der Kirche für den Bereich Musik drei Maximen durch: Erstens ist Musik nur dann nützlich, wenn sie an die göttliche Schönheit erinnert. Zweitens hat Musik der Religion zu dienen, den christlichen Glauben zu lehren; reine Instrumentalmusik kann dies nicht und muss daher abgelehnt werden. Drittens wird auch Musik zum Zwecke des Tanzens und Vergnügens abgelehnt, denn dies ist heidnisch.

Musik dient dem Glauben:
Die damaligen Bewahrer der Kultur - Mönche, Nonnen und andere Geistliche - verbrachten viel Zeit im Gebet. Die Rolle der Musik in der frühen Kirche war einerseits eine Atmosphäre der Inbrunst zur Unterstützung der langen Gebetsstunden zu schaffen, andererseits die Messen feierlich und würdig zu gestalten. Die Gesänge jener Zeit waren einfache, schmucklose Melodien, die nicht instrumentell begleitet wurden. Um das elfte Jahrhundert vollzog sich dann ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel in Europa. Neue Produktionsmethoden in der Landwirtschaft sorgten für anhaltendes Bevölkerungswachstum. Es entstanden rasch wachsende Städte; Handwerk, Handel und Geldwirtschaft weiteten sich sprunghaft aus. Die Stadt wurde zum kooperativen Unternehmen, und ihre Bewohner spezialisierten sich in zunehmendem Maße.

Neue Berufsgruppe: In diesem Umfeld entstand auch die neue Berufsgruppe der Musiker im Dienste der Kirche. Das hatte bald gravierende Veränderungen in der Musik selbst zur Folge. Zwei- und mehrstimmige Gesänge tauchten auf, mehrere Melodien wurden gleichzeitig gesungen und instrumental begleitet. Während man zuvor nach groben schriftlichen Vorgaben improvisiert hatte, brauchte es für die neue Musik eine präzisere Schrift. Der Vorläufer unserer Notenschrift entstand - und damit die Möglichkeit des systematischen Komponierens komplexer Musik nebst der Weitergabe der notierten Werke an Musiker andernorts und nachfolgende Generationen. Damit war der Weg bereitet für die klassische europäische Musikkultur.

Lesen Sie in der nächsten Folge: Erste Blüte der Naturwissenschaft in der Antike
Weitere Beiträge der Serie auf www.volksfreund.de/geschichte

Der Grieche Pythagoras war lange nach seinem Tod bei den Römern hochverehrt als "Erfinder der Musik". Sie pflegten die Legende, der Denker habe in einer Schmiede herausgefunden, dass Hämmer beim Schlagen sehr schön zusammenklingen, wenn ihre Gewichte in bestimmten ganzzahligen Verhältnissen zueinander stehen. Die physikalischen Angaben aus der Legende gelten heute als falsch. Den Ruhm des Pythagoras schmälert das kaum: Er hat zwar die Musik nicht erfunden, aber doch die systematische Musiktheorie begründet.
Der gregorianische Choral, entstanden im siebten Jahrhundert, gilt als die älteste bis heute erhaltene und praktizierte musikalische Leistung des Christentums. Zugleich aber basiert der einstimmige Gesang unüberhörbar auf griechisch-antikem Erbe, schöpft er seinen Tonvorrat doch aus den Kirchentonarten, die wiederum aus dem Tonsystem der Hellenen übernommen wurden. Neben der lateinischen Sprache und dem Ritus war der gregorianische Choral ein zentrales Merkmal der christlichen Kirchenliturgie. Seine Texte bestehen überwiegend aus Bibelpsalmen. Das gesungene Lob Gottes wurde vielfach als intensivste Form der Gläubigkeit angesehen.

Der Text dieser Seite entstand auf Basis eines Vortrages, den Bastian Klein im Rahmen der Akademie der Marienberger Seminare gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck in der Zeitung haben Andrea Mertes und Andreas Pecht übernommen. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e.V. Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare e.V., Tel. 02661/6702, E-Mail: mail@marienberger-akademie.de
Die TV-Serie "Kulturgeschichte der Menschheit" ist eine Kooperation der Marienberger Seminare mit mehreren Regionalzeitungen. Sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz. red

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort