Wenn Pflege im Alter das Leben bestimmt

Trier · Zwei von drei Menschen in Deutschland pflegen selbst einen nahestehenden Menschen oder kennen im privaten Umfeld Menschen, die auf Pflege oder Betreuung angewiesen sind. In jedem Jahr nimmt deren Zahl zu. Vor allem in ländlichen Räumen könnte das schon bald zu einer Notsituation führen.

Trier. Alles ist in Bewegung. Wenn es um das Thema Pflege geht, wird derzeit auf politischer und kommunaler Ebene viel diskutiert. Bis alle Gesetzesinitiativen, Projekte und Reformen umgesetzt sind, werden noch einige Jahre vergehen. Die Beteiligten wissen, dass keine Zeit zu verlieren ist. Städte, Kommunen, der Deutsche Pflegerat und die AOK fordern exemplarisch in einem dramatischen Aufruf, Pflege in das Zentrum politischer und gesellschaftlicher Aufmerksamkeit zu rücken.

Können sich bald nur noch Reiche die Pflege im Alter leisten?

Kommentar: Herausforderung für uns alle

Pflegebegriff: Was ist Pflege? Welche Leistungen sind durch den Sozialstaat abgesichert? Die klassische Einteilung in drei Pflegestufen, die sich an der körperlichen Fähigkeit der Hilfebedürftigen orientiert, ist nicht mehr zeitgemäß. Angesichts jährlich 40 000 zusätzlicher Demenzerkrankungen plant die Bundesregierung eine Neudefinition des Pflegebegriffs.
Statt bislang drei Stufen soll es fünf Pflegegrade geben, in denen unter anderem Mobilität, geistige Fähigkeiten, Selbstversorgung, die Einnahme von Medikamenten und soziale Kontakte gemessen werden. Ab 2017 soll diese Reform nach Aussage von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe greifen. Marcus Mai, stellvertretender Vorsitzender des Dachverbandes der Pflegeorganisationen (DPO) in Rheinland-Pfalz, begrüßt diese Initiative: "Es wird zwar besser, aber Ungerechtigkeiten wird es auch dann geben."

Stadt und Land: Ungleich sind auch die Bedingungen in Städten und auf dem flachen Land. Während in Trier, Bitburg oder Wittlich kurze Wege und vergleichsweise attraktive Arbeitsbedingungen eine ordentliche bis gute und differenzierte Pflegeversorgung sichern, könnte es in der Vulkaneifel oder Teilen von Hunsrück und Hochwald schon bald zu Engpässen kommen. Das prognostizieren die Trierer Soziologieprofessoren Michael Jäckel und Rüdiger Jakob. "Eine Wiederbelebung des Begriffs Solidarität wird zwingend notwendig sein", sagt Jäckel und regt an, über eine neue Form der gemeinnützigen Arbeit nachzudenken, um gerade in den weniger dicht besiedelten Regionen die Versorgung alter und hilfsbedürftiger Menschen sicherzustellen.
Am Beispiel des Eifelortes Aach (Kreis Trier-Saarburg) erklärt Rüdiger Jakob, dass die Betreuung alter Menschen deutlich mehr als die klassische Pflege beinhalten muss. "In Aach entspricht das Angebot fast dem eines Vororts von Trier. Aber was nutzt einem alten Menschen eine gute Busverbindung, wenn die Straßen so steil sind, dass er nicht zur Bushaltestelle oder von dort nach Hause kommt?"

Arbeitsmarkt: Klassische Kranken- oder Altenpfleger werden bei solchen Problemen nicht helfen. Denn sie werden dringend für die medizinische Pflege in den Krankenhäusern, Altenheimen und ambulanten Diensten gebraucht. "Es gibt kaum einen Bereich, der krisensicherer ist als die Pflege", sagt Christel Kallies, Pflegedirektorin im Mutterhaus der Borromäerinnen in Trier. "Schon jetzt kann jede Absolventin unserer Krankenpflegeschule unter mindestens fünf Anstellungen wählen." Den enormen Bedarf an zusätzlichen Pflegekräften bestätigt auch Alois Adler, Pflegedirektor im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder (BKT). "Wir übernehmen in diesem Jahr den kompletten Abschlussjahrgang in unserem Haus."
Thomas Greiner, Präsident des Arbeitgeberverbandes Pflege, hält zwar das "Geschwätz von einem Pflegenotstand für unverantwortlich". Einen demografisch bedingten Mangel an Pflegefachkräften gebe es aber. Die Gewerkschaft Verdi spricht von bundesweit 19 000 fehlenden Pflegefachkräften im Jahr 2016. 2030 werden es 140 000 sein.
In der Region Trier herrscht derzeit laut rheinland-pfälzischem Branchenmonitor ein Bedarf von 680 Personen in der Pflege. Sie fehlen vor allem im ambulanten Bereich, wo die Arbeitsbedingungen häufig schwierig sind.

Gehalt: Vom Durchschnittsverdienst von 2400 Euro für eine Pflegefachkraft in Deutschland können viele Mitarbeiterinnen ambulanter Pflegedienste allerdings nur träumen. Thomas Müller, Verdi-Geschäftsführer für den Raum Trier-Saar: "Wenn jemand für diese schwierige Aufgabe 1400 Euro brutto pro Monat bekommt, stellen sich mir die Nackenhaare." Dass angesichts eines Nettogehalts von bis zu 3000 Euro in Luxemburg viele qualifizierte Pflegefachkräfte lieber dort arbeiten, sei nachvollziehbar. Auch BKT-Pflegedirektor Alois Adler kann da nur mit den Schultern zucken. "Wir können das nicht bezahlen."

Wohlfahrtsverbände: Mit besseren Bedingungen als in vielen privaten ambulanten Diensten werben die Wohlfahrtsverbände wie Diakonie oder Caritas. "Die Sozialstationen der Caritas haben in der Region Trier bei der Stellenbesetzung keine Probleme", sagt Gaby Jacquemoth, Sprecherin des Diözesan-Caritasverbandes. Eine gezielte Gewinnung ausländischer Pflegefachkräfte sei derzeit im ambulanten Bereich noch kein Thema. Der Caritasverband ist zuversichtlich, dass die ambulante Pflege auf dem flachen Land trotz weiter Fahrwege aufrechterhalten werden kann. "Organisatorische Umstrukturierungen sind notwendig. Die Sozialstationen und ambulanten Dienste werden ihre Dienstleistungen noch flexibler gestalten", so Jacquemoth. Mit den Soziologen der Uni Trier sind sich die Verantwortlichen des Diözesancaritasverbandes einig: "Die Aufrechterhaltung einer werte-orientierten und qualitätsgesicherten ambulanten Pflege setzt die Verknüpfung unserer Dienstleistungen mit familiären, nachbarschaftlichen und ehrenamtlichen Angeboten zu tragfähigen Netzwerken voraus."
Extra

Diese Themen sind in den kommenden Wochen geplant: MdK - Pflegestufen - Gesetze: So funktioniert die Pflegeversicherung. Kompetent und begehrt: Pflegeberufe und Perspektiven. Demenz - Herausforderung für die Zukunft. Pflegefall - was tun? Blick in den Alltag: Ambulante Krankenpflege. Pflegekammer geplant - eine Lobby für den Berufsstand. Und wer hilft den Pflegenden? Blick hinter die Kulisse: Heimpflege. Wenn Frust zu Aggression führt - Gewalt in der Pflege. Alles, was Recht ist: Patientenverfügung und Co. Innovativ: Neue Wohnformen für Pflegebedürftige. Selbstbestimmt, solange es geht: Barrierefreies Bauen und Wohnen. Wer zahlt im Pflegefall? Pflege und private Vorsorge. Alle Fragen zur Pflege erlaubt: Telefonaktion am 1. Oktober, 17 bis 19 Uhr. r.n.

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